Schriftstellerin und Lyrikerin, Reiseliebhaberin mit begrenzten Möglichkeiten, eine Frau mit genauem Blick und einer besonderen Stimme. Anne Marie Pircher war und ist vieles. Ihr Leben verlief nicht in geraden Linien, sondern musste sich durch viele Hindernisse schlängeln. Sie ist in einem Dorf im Burggrafenamt aufgewachsen, hat aber auch schon früh das Weite gesucht, um über den Horizont zu schauen, mit offenen Augen und Fühlern das Eigentliche zu suchen, das was hinter den Dingen, dem Offensichtlichen steht.
Sprache und Sprachen öffneten mir Welten, die ich in der Realität nicht vorfand. Umwege, Fluchtwege, Schleichwege haben mich zu dem geformt, was ich bin.
Weitere Infos auf www.annemariepircher.eu
Die Autorin wird am 11.Oktober 2022 um 19.30 Uhr im Frauenmuseum ihr neuestes Werk vorstellen. Kommt zahlreich und meldet euch an unter service@museia.it
Anne Marie du bist in einer kleinen Ortschaft innerhalb einer Gastwirtsfamilie aufgewachsen. Wie wurde deine Leidenschaft für die Schreibkunst aufgenommen, wie konntest du dich entfalten?
Mein Talent zum Schreiben zeigte sich bereits in der Grundschule. Meine damalige Lehrerin hatte große Freude an mir. Allerdings bin ich in ein Milieu und in eine Zeit hineingeboren, in der ein derartiges Talent ansonsten wenig Aufmerksamkeit erregte. Materielles Vorwärtskommen stand im Vordergrund. Das war für Familien wie die meine durchaus üblich. Es gab keine Bücher im Haus. Meine Liebe zum Lesen und zu den Sprachen begann also erst gegen Ende der Mittelschule, zu Beginn der Oberschule. Von da an bin ich eingetaucht in Literatur, sie war für mich ein Ventil für ein Leben in Enge und Unfreiheit.
Wann hast du deine ersten Texte veröffentlicht? Was wolltest du damit ausdrücken?
Es hat lange gedauert, bis ich mich mit ersten Gedichten an die Öffentlichkeit getraut habe. Das war ein Prozess. Obwohl ich bereits mit 12 Jahren heimlich beschlossen habe, Schriftstellerin zu werden, gelang es mir erst, mit Anfang/Mitte 30 in dieser Hinsicht eine Blockade zu lösen. Ich habe diese Seite an mir lange zurückgehalten, nicht zuletzt aus existentiellen Gründen. Ich brauchte dafür ein wenig Unabhängigkeit, weil mir von Anfang an bewusst war, dass ich eine milieukritische Literatur machen würde. Mit Unterstützung meiner Herkunftsfamilie war da nicht zu rechnen. Ich musste mir erst einen Platz erobern, wo ich so sein konnte wie ich bin. Das hat gedauert. In meinen ersten Entwürfen ging es vor allem um das Aufbrechen eines langen Schweigens, das Zulassen von Gefühlen. Alles ziemlich unmittelbar, ohne an große Literatur zu denken. Die Gedichte habe ich mit Schwarz-Weiß-Fotografien untermauert.
Wie wurdest du im Südtiroler Literaturbetrieb aufgenommen?
Das war unterschiedlich. Mir war diese Welt ja ziemlich fremd, weil ich aus einem ganz anderen Eck komme als die meisten Schriftsteller:innen in diesem Land. Ich kannte niemanden aus dem akademischen Umfeld. Ich war eine junge Frau und Mutter, verheiratet mit einem Landwirt in dem kleinen Dorf Kuens. Da war man skeptisch, obwohl ich dann auf Anhieb bei einem großen Wettbewerb in Österreich neben großen Namen dabei war. Das hat mir dann schon auch eine Tür geöffnet. Das bäuerlich-dörfliche Umfeld, in das ich eingeheiratet habe, stand mir genauso kritisch gegenüber wie es ein Teil der intellektuellen Welt tat. Ich brauchte viel Kraft, um überhaupt zu existieren, auch weil ich zwischen den beiden Welten jonglieren musste. Neben Kindererziehung und Broterwerb ging es mit dem Schreiben dann auch eher langsam voran, über lange Strecken überhaupt nicht. Ich musste mich immer wieder neu erfinden und positionieren, um weitergehen zu können, auch verschiedenen Tätigkeiten nachgehen, um Geld zu verdienen. Zudem bin ich eine eher menschenscheue und zurückgezogene Person. Aber es gab und gibt Menschen im Land, die mich von Beginn an ernst genommen haben.
Was beinhaltet dein jetzt erschienener Roman? Welchen Selbstfindungsprozess hast du damit in die Wege geleitet?
In meinem kürzlich erschienen Roman „Iris & Pupille“ geht es um eine große Reise, eigentlich aber um die Flucht einer jungen Frau aus dem Südtirol der 1980er Jahre. Den Stoff dazu trage ich schon seit Jahrzehnten mit mir herum, fand aber erst jetzt die Kraft und genügend Freiraum, um diese aufwändige Arbeit anzugehen. Es ist ein mutiger Text, der nah an meiner Biographie verläuft. Maria, die junge Protagonistin, mit feinen Antennen ausgestattet, aber schon früh gebrochen, findet in dem Milieu, in dem sie aufwächst, nicht ihren Platz. In eine falsche Schule gedrängt, von Elternhaus und Umfeld fremdbestimmt, wagt sie die Rebellion, danach den großen Sprung über den großen Teich. Sie findet eine neue Welt, die bis nach Äthiopien reicht, schließlich auch einen sich anbahnenden Weg ins eigene Ich. Den Selbstfindungsprozess hat es lange vor der Niederschrift des Romans gegeben. Das Buch habe ich aus einer großen Distanz dazu geschrieben.
Was bedeutet für dich Freiheit?
Gesund zu sein, Gefühle zu leben, denken zu dürfen. Schon als Kind war ich oft im Denken, lernte aber früh, mich zu verstellen oder aber ganz zu schweigen, weil ich die Verlogenheit der Erwachsenenwelt zu leicht durchschaute. Ich wollte mich anpassen und gefallen. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Heute bin ich freier, aber meine Prägung sitzt tief.
Wie lebst du deine Eigensinnigkeit aus? Nimmst du sie mit offenen Armen an oder stellst du sie eher in den Schatten?
Ich erinnere mich, dass man mir als Kind Eigensinn vorgeworfen hat, gesagt hat, das müsse man mir austreiben. Nach außen hin ist es gelungen, nach innen hat sich mein Eigensinn aber umso mehr ausgebreitet. Mittlerweile kann ich meine Eigensinnigkeit sehr gut annehmen, vor allem im Schreiben. Ich habe für mich einen Raum in einem kleinen Dorf verteidigt, inmitten einer patriarchalisch-konservativen Welt, die mich zu schlucken hat. Es ist ein schönes Gefühl, derartiges geschafft zu haben, auch wenn man dabei eher einsam bleibt.
Was hast du von deinen beiden Söhnen gelernt? Was hast du ihnen mitgegeben?
Die Geburt meiner Söhne hat meinem Leben eine völlig neue Struktur gegeben. Im Nachhinein kann ich oft gar nicht glauben, welche Kraft ich damals hatte, inmitten eines für mich eher ungünstigen Umfelds diese Kinder im Abstand von nur 15 Monaten in die Welt zu setzen und zu begleiten. Ich bin da über mich selbst hinausgewachsen. Sie haben mir aber auch Energie gegeben mit ihrer Lebendigkeit, mir teilweise sogar eigene Kindheit zurückgebracht und mich in ihre Mitte genommen. Zeitweise auch den Spiegel vorgehalten. Man weiß nie so genau, was man den eigenen Kindern mitgibt, weil ja vieles unbewusst passiert. Aber vielleicht ist es neben dem hinterfragenden Blick auf die Welt etwas wie Freundlichkeit und Respekt gegenüber anderen. Ich war so klug, ihnen ihre Umgebung nicht zu vergraulen, sondern ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen. Ich habe sie gehalten und gleichzeitig frei gelassen. Mit Sicherheit auch einiges falsch gemacht, aber das gehört zum Muttersein dazu. Wir sind keine Übermenschen.
Was wünscht du dir für Südtirol?
Mit dem Wünschen ist es so eine Sache … Nichtsdestotrotz wünsche ich mir für Südtirol und darüber hinaus eine mutigere Gesellschaft, die weniger abhängig ist von Leitwölfen und -wölfinnen. Menschen, die eigenständig denken lernen, an sich selber arbeiten und nicht alles, was schiefläuft, den anderen zuschreiben. Wir können die Welt um uns nur ändern, wenn wir uns selbst ändern. Ich finde, es bräuchte in allen Bereichen mehr emotionale Intelligenz. Sie sollte vermehrt gefördert und eingesetzt werden, damit wir aus unseren jeweiligen Blasen herausfinden und Empathie auch für andere Lebensrealitäten als den eigenen entwickeln.
Interview: Sarah Trevisiol