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Drei Jahrzehnte Bewusstseinsbildung: Die Glasgow Women’s Library

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Die Geschichte der Großmütter bewahren, die Erinnerungen der Mütter hören, den Töchtern Inspirationen zur Verfügung stellen – kurz: GLW (Glasgow Women’s Library).

Anhand dieses Gedankenfadens, der Generationen von Frauen wie eine Nabelschnur verbindet, feiert die Glasgow Women’s Library zur Zeit meines Besuchs im Sommer 2022 ihr 30-jähriges Jubiläum unter dem Titel: Three Decades of Changing Minds. 

Ich öffne die Tür und ein heimeliger, angenehmer Geruch strömt in meine Nase: der Duft von Büchern, von Futter für Herz und Hirn, das Aroma geistiger Nahrung.

Kirstin, die heute die Bibliothek betreut, bringt mir die Geschichte der Glasgow Women’s Library näher:

Vor 30 Jahren startete eine Gruppe von Frauen aus Glagow dieses Unterfangen. Sie nannten sich „women in profile“ und wollten das männerzentrierte Image der Kunstszene aufbrechen. In diesem Gebäude, einer ehemaligen Bibliothek, residieren wir seit 2015. Den damaligen Leseraum für Männer, den größeren – selbstredend-, nützen wir für Veranstaltungen, der kleinere Leseraum der Frauen dient uns als Büro. Die Bücher hier in der Ausleihzone, alle gespendet, sind unseren BesucherInnen uneingeschränkt zugänglich. Daneben führen wir ein Archiv über Frauengeschichte. Besonders freut es uns, dass wir das Lesbenarchiv Großbritanniens, das vorher in London war, retten konnten und ihm hier in Schottland eine neue Heimat bieten. Damit verbunden waren bereits Ausstellungen zur LGBTQ-Geschichte. People of Colour (=PoC) wurden eingeladen, aus ihrer Perspektive unser Archiv zu beleuchten.

Mir gefällt, wie diese Institution Inklusion lebt: selbstverständlich und unaufdringlich, ohne großes Brimborium rundherum. Zumindest empfinde ich es so, wenn ich Kirstin zuhöre. Bestätigt darin werde ich später in der Jubiläumsbroschüre, die in einer Notiz betreffend Veranstaltungen „nur für Frauen“ in einer wohltuenden Formulierung darauf verweist, dass diese inklusiv gedacht sind:

Alle Trans- und Intersexfrauen, nicht binären und genderfluiden Personen, die sich in einer Atmosphäre, die auf Erfahrungen von Frauen fokussiert, wohlfühlen, sind willkommen.

So klingt selbstverständlich gelebte Inklusion. Diese Haltung der Glasgow Women’s Library ermöglicht es mir, mich weiterhin mit allen Frauen solidarisch verbunden zu fühlen. Unterschiedliches kann egalitär nebeneinander bestehen. Mein Frausein wird mir nicht abgesprochen.

Schirmständer

Kunstvoll geformt, blau-weiß gestrichen, altersschwach und abgenutzt lehnt er an der Breitseite eines Regals, als hätte er eine Stütze nötig – ein antiquarisch wirkender Schirmständer, ein Blickfang, der nach einer Erklärung verlangt. Schon beginnt Kirstin zu erzählen:

Für uns besitzt dieser Schirmständer symbolischen Wert. Er wurde vor etwa 100 Jahren von Suffragetten im Duke Street-Gefängnis gestrichen. Alte Dinge vor ihrem Verschwinden zu retten gleicht unserer Arbeit hier, mit der wir die Geschichte von Frauen und ihre Leistungen vor dem Vergessen bewahren.

Das gelingt der Glasgow Women’s Library auf mannigfache Weise. Da sind einmal die vielen gespendeten Bücher, von Frauen verfasst, geschrieben über Frauen und frauenrelevante Themen. Bei genauerer Betrachtung treffe ich auf Autorinnen, die auch bei mir zu Hause einen Platz gefunden haben: Rebecca Solnit: „The Mother of All Questions“ (dt.: Die Mutter aller Fragen), Natasha Walter: „Living Doll“, Jessica Valenti: „Full Frontal Feminism“….. Die Glasgow Women’s Library unterscheidet sich nicht nur darin von anderen Büchereien, dass sie ausschließlich Autorinnen in ihre Bestände aufnimmt, sondern auch im Ordnungssystem, nachdem sie die Bücher einreiht.

Wussten Sie, dass die Kategorisierung von Büchern in den Bibliotheken nach dem Dewey-System erfolgt? Basierend auf dem Denk- und Wissenssystem des 19. Jahrhunderts, wird es heutzutage als sexistisch und rassistisch bewertet. Deshalb verwendet die Bücherei ein eigenes Modell zur Einsortierung ihrer Druckwerke, das auf einer folierten Tafel aushängt. Mit Kategorien wie Feminismus, Gewalt gegen Frauen, LGBTQI+, Sexualität, Internationale Bücher in Urdu, Gaelisch und nicht-englischsprachige Bücher, … bricht die Bücherei mit dem vorherrschenden patriarchalen Ordnungssystem und stellt Orientierung im Blätterwald auf feministisch-inklusive Weise her.

Women on the Shelf

Einladend und lose liegen liebevoll gestaltete Würfel aus hellem Holz auf den Bücherregalen. Zusätzlich wecken ihre Aufschriften meine Neugier. Was verbirgt sich hinter diesem gelungenen Detail, bei dem die Besucher:in sofort sinnlich-haptisch dabeisein will? „Women on the Shelf“ nennen sich diese „Frauen zum Angreifen“. Sie stammen aus einer Fundraising-Aktion des Frauenmuseums. Jede Spender:in konnte für sie wichtigen, bedeutenden Frauen, die ihrer Meinung nach nicht vergessen werden sollten, einen Würfel widmen.

Nicht nur durch diese Spendenaktion zeigt die Glasgow Women’s Library ihr Interesse an jenen Frauen, die im Konzert des Weltgeschehens üblicherweise ungehört und ungesehen bleiben. Es scheint generell in die DNA des Museumsteams eingeschrieben zu sein, Frauen zu würdigen, die nicht im Rampenlicht stehen, oder durch die Umstände gezwungen sind, ihr Leben unter schwierigen Bedingungen zu bewältigen. Genau auf sie, die gesellschaftlich eher verachtet als geachtet werden, fokussiert die Ausstellung in der Upper Galery des Museums, unter dem Titel: „Making Her Mark“.

Einblick in die Ausstellung „Making her Mark“

Frauen aus der Umgebung von Glasgow, die an der Wende zum 19. Jahrhundert im Armenhaus Hilfe und Unterschlupf fanden – verlassene Frauen mit zu versorgenden Kindern; obdachlose, alte und behinderte Frauen, Haushaltsgehilfinnen, Textilarbeiterinnen, in Prostitution verwickelte Frauen, etc.

In Zusammenarbeit mit zwei sozialen Institutionen aus der Umgebung wurden ihre Lebensläufe aus der Anonymität geholt, ihre Leben aufgeschrieben und versucht, sie in Straßennamen zu verewigen. Ein Unterfangen, das die weniger glorreiche Seite der Geschichte aufgreift und öffentlich präsentiert.

Eine weitere Möglichkeit, verborgene Geschichten der Frauen Glasgows kennenzulernen, die über die Jahrhunderte als Hausfrauen, Suffragetten, Künstlerinnen, Straßenhändlerinnen, Hausiererinnen oder Unternehmerinnen das Leben der Stadt durch ihre findige, harte und oftmals pionierinnenhafte Arbeit mitprägten, bieten Stadtspaziergänge und Radausfahrten. Wer es lieber im Alleingang macht, findet dafür auf einem Ständer eine reiche Auswahl an Foldern, die zur selbstständigen Erkundung anleiten. Ich staune über die Vielzahl des Dargebotenen, jedes Viertel, jeder Winkel Glasgows scheint feministisch durchleuchtet zu sein. Eines der großartigen Ergebnisse von 30 Dezennien Bewusstseinsbildung.

In seinem Verständnis als soziales Zentrum unterstützt das Frauenmuseum Frauen der Umgebung, indem es mit seinen gemütlichen Sitzplätzen und Arbeitstischen Raum für Kommunikation und Bildung bietet. Stillende Mütter treffen sich zum Austausch, Erwachsene zum Gedächtnistraining, Alphabetisierungskurse werden abgehalten, …

Auf weitere 30 produktive, das Bewusstsein schärfende Jahre – und mehr!

 

Verfasst von:

Marianne Wimmer, Frauenmuseensammlerin

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