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Frauen als Flüchtlinge – eine andere Geschichte Teil 2

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Im vorigen Beitrag hat Expertin von „La Strada“ Marina Bruccoleri über die Mythen der Prostitution und die Situation der Flüchtlingsfrauen von Nigeria in einem Interview beschrieben, heute erzählt uns Psychologe Fernando Biague, wie mit Juju Frauen erpresst werden und Religion für die Menschen aus Afrika eine gänzlich andere Bedeutung hat als in Europa.

Filmplakat Joy @2018

 

Der Film „Joy“ von Sudabeh Mortezai, der beim Bozner Filmfestival zu sehen war, beginnt mit einem Juju-Ritual.

Dieses Ritual hat mit afrikanischen Traditionen zu tun. Wir leben in Afrika in einer Glaubenswelt, in der es ein höheres Wesen gibt, das Gott genannt wird, und gleich darunter gibt es Geister und andere Gottheiten.
Sie bestimmen die Regeln, nach denen wir zu leben haben.
Für uns sind Geister positiv und negativ besetzt. Die Überzeugung, dass Geister uns ständig hilfreich begleiten, ist sehr präsent, genauso wie die Überzeugung, dass sie uns bestrafen, wenn wir uns nicht an die Traditionen halten.
So ist es beispielsweise üblich, vor einer Reise ein Ritual durchzuführen, in dem der Schutz der Geister beschworen wird. Ich habe das selbst erlebt, als ich 1985 dank eines Stipendiums mein Studium in Italien aufnehmen konnte.
Vor dem Reiseantritt hat meine Mutter ein Ritual durchgeführt, eine Ziege geopfert, die Geister und die Seelen meines Vaters und meiner Großeltern um Schutz gebeten. Diese Traditionen sind im Subsahara-Afrika sehr verbreitet.

 

Und das Juju-Ritual?

Juju hat eher mit Ausbeutung und Kriminalität zu tun. Es wird von der organisierten Kriminalität in Nigeria eingesetzt.
In diesen Ritualen werden vertragsähnliche Vereinbarungen getroffen (manchmal werden auch klassische Verträge bei Notaren unterzeichnet), mit denen den Frauen zugesichert wird, dass sie nach Europa kommen können, ohne selbst bürokratische und finanzielle Hürden nehmen zu müssen.
Im Gegenzug müssen sie vor einem Schamanen schwören, dass sie die vereinbarte Geldsumme bezahlen werden. Das können bis zu 50.000 Euro sein.
Der niedere Bildungsgrad ist mit ein Grund dafür, dass die Frauen diese Summen akzeptieren. Sie haben keine Vorstellung vom Betrag und davon, wie sie diesen beschaffen müssen.
Meist kennen sie Gerüchte, denen zufolge Frauen Erfolg gehabt haben sollen.
Was wirklich geschieht, wird aus Scham und wegen der Bindung an das Ritual nicht erzählt. Negative Informationen kommen nicht an die Öffentlichkeit.

Das ist eine Juju-Bohne. Sie wird beim Juju-Ritual eingesetzt. Laut Biague ein beliebtes Mittel der nigeranischen Kriminalität, um sich Frauen für die Zwangsprostitution in Europa gefügig zu machen. Quelle: Pixabay

 

Beim Juju-Ritual muss die Frau versprechen, sich an die Vereinbarungen zu halten, weil ihr sonst Tod oder Wahnsinn drohen.
Typische Sätze sind: „Ich schwöre die gesamte Schuld abzuzahlen, ich schwöre nie über den Betrag zu sprechen, ich schwöre, mich nicht gegen die Befehle der Madame zu stellen“.
Abschließend werden Haare der Frau, Schamhaare aber auch Blutstropfen und ein Stück Unterwäsche in einem Säckchen verstaut, das der Priester aufbewahrt. Er kann, so das Juju, die Frau oder ihre Verwandten jederzeit bestrafen, wenn sie sich nicht ans Vereinbarte hält.

 

Diese Art von Religiosität scheint sehr stark zu sein.

Ja, diese Art von Religion und alles, was damit zusammenhängt, führt zu einer sozialen Kontrolle, die zur Falle wird.

 

 

In Afrika sind aber auch die großen monotheistischen Religionen verbreitet.

Vor vielen Jahrhunderten ist der Kontinent mit dem Christentum und dem Islam in Kontakt gekommen. Viele sind diesen Religionsgemeinschaften beigetreten, aber trotzdem gibt es eine starke Durchmischung zwischen unseren afrikanischen Traditionen und den neuen Konfessionen.
Dieses Zusammenleben zeigt die besondere Fähigkeit der vielfältigen afrikanischen Bevölkerung mit ganz unterschiedlichen Wirklichkeiten zurechtzukommen. Ich selbst wurde mit 12 Jahren getauft, aber noch heute nehme ich an Zeremonien teil, wenn ich nach Hause komme, weil es gar nicht anders geht.
Die Nicht-Teilnahme wird fast immer als Verletzung der Traditionen der Geister angesehen. Und sollte der Person, die sich verweigert hat, oder einer ihr nahestehenden Person zufällig etwas Negatives widerfahren, würde das als Strafe der Geister gesehen werden. Deshalb versucht man, Spannungen in der Familie zu vermeiden.
Als viele von uns nach Portugal auswanderten, sind auch die Schamanen gekommen. Sie setzen Anzeigen in die Zeitungen, damit sich Menschen bei Bedarf an sie wenden können.

Monotheistische Religionen und afrikanische Traditionen sind gut durchmischt. Quelle: Pixabay
Religion hat in Afrika eine viel stärkere Bedeutung als in Europa.

Ja, in Afrika ist ein Großteil der Menschen diesen alten Traditionen verbunden. Ich habe Seminare zu dieser Thematik angeregt, um darüber zu informieren und dadurch besser auf psychosoziale Problematiken bei Menschen eingehen zu können, die aus Afrika kommen.
Denn die Sichtweise der westlichen Medizin stimmt nicht immer mit jener afrikanischer Menschen überein, und daraus können sich im Sozial- und Gesundheitsbereich Schwierigkeiten ergeben, die Heilungsprozesse  beeinträchtigen.

 

Es gibt Frauen, die über Kopfweh klagen und glauben, durch Gebet könnten sie es loswerden.

Frauen in schwierigen Situationen kann das Gebet dabei helfen, sich mit Gott in Verbindung zu setzen und mit den Geistern. Für Frauen, die einen Schwur abgelegt haben, kann der Kopfschmerz aber auch bedeuten, dass die Geister im Auftrag des Priesters dabei sind, sie zu bestrafen, weil sie sich nicht an die Abmachungen gehalten haben.
So kann ein Kopfschmerz, der eigentlich durch den ständigen Druck von Seiten der Madame oder der Menschenhändler zustande kommt, dazu führen, dass die Frau glaubt, die Geister würden auf sie wirken. Und diese Sorge erzeugt Angst, und daraus entsteht neue noch stärkere Angst.

 

Vor ein paar Monaten hat ein geistlicher Führer aus Nigeria das Juju offiziell abgeschafft.

Es handelt sich um Oba II., der auch Gouverneur einer wichtigen Provinz in Nigeria ist. Er hat anders als sein Vater Oba I. in den USA und in England studiert, war Botschafter in mehreren europäischen Ländern und hat den Menschenhandel mit Frauen aus Nigeria kennengelernt. Als er nach Nigeria zurückkam, beschloss er, dass damit ein Ende sein muss. Er hat alle Schamanen, die Juju durchführen, exkommuniziert. Noch ist es zu früh zu sagen, ob er damit etwas bewirken konnte und ob die Frauen dazu in der Lage sein werden, ihre Angst zu überwinden und sich von der organisierten Kriminalität zu befreien.

 

Privatbesitz Biague

Fernando Biague aus Guinea Bissau lebt seit über 34 Jahren in Italien. Er forscht im Bereich Psychologie. Außerdem begleitet er Integrationsprojekte für Jugendliche, ausländische Frauen und ausländische Strafgefangene im Gefängnis in Bozen. 2008 hat er ein Buch mit dem Titel “Das Migrationsprojekt: Auslander berichten” (Edition Weger) veröffentlicht. Er ist Mitbegründer und Präsident des Recherche- und Ausbildungszentrum für Interkulturalität in Brixen. Derzeit arbeitet er an einer Pilotstudie über den Rassismus in Italien.

 

 

Interview geführt von Renate Mumelter
im Auftrag vom Netzwerk Gewaltprävention in Zusammenarbeit mit dem Filmfestival Bozen

 

 

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