Die Österreichische Künstlerin Bianca Tschaikner hat einen Monat in Meghalaya in Indien verbracht und ein Buch über die Mythen, Traditionen und Alltagsgeschichten dort veröffentlicht. Der Khasi-Stamm hat eine matrilineare Kultur – das heißt es sind die Frauen, denen der ganze Besitz gehört und die ihren Namen an die Kinder weitergeben, während die Ehemänner nach der Hochzeit bei den Frauen einziehen. Wir haben Bianca Tschaikner nach ihren Erfahrungen gefragt.
Wie ist dein Interesse für die Khasi-Kultur entstanden und wodurch hat sich die Möglichkeit ergeben, einen Monat in Nordostindien zu leben und zu arbeiten?
Als Teenager habe ich mal im GEO-Magazin einen sehr spannenden Artikel über die Khasi gelesen, den ich nie vergessen habe. Ich bin öfters in Indien und habe mir immer gedacht, dass ich da mal hinfahren muss. Ich mache öfters artist residencies und bin dann zufällig auf Artist’s Point in Meghalaya gestoßen, habe mich beworben und wurde eingeladen, einen Monat lang in den Khasi-Hügeln zu arbeiten – wir waren sechs Künstlerinnen aus verschiedenen Ländern.
Wie hast du von Geschichten, Mythen und Ritualen der Khasis erfahren?
Die Mythen und Fabelwesen der Khasi sind allgegenwärtig, und jeder und jede, egal ob alt oder jung, kann einem dort etwas erzählen – Geschichten zu sammeln war dort ein Leichtes. Man hat das Gefühl, dass die ganze Landschaft – Steine, Berge, Wälder – verzaubert ist. Der Geschichtenreichtum der Khasi ist einzigartig.
Auch die heiße Quelle, bei der wir gewohnt haben, hat einen faszinierenden Entstehungsmythos – ein etwas überforderter Gott, der angesichts einer überraschend im Dschungel niederkommenden Göttin heißes Wasser für sie gekocht hat, damit sie ihr Baby wenigstens waschen kann. Das Bild, das ich dazu gezeichnet habe, ist derzeit im Frauenmuseum Hittisau in der Jubiläumsausstellung “Geburtskultur. Vom Gebären und Geborenwerden” zu sehen.
Wie zeigt sich das matrilineare System in dieser Gesellschaft?
Bei den Khasi wird der Familienname und Besitz über die weibliche Linie weitergegeben, und zwar über die Khaddu, die jüngste Tochter. Alles gehört den Frauen. Außerdem übernimmt der Bruder der Mutter die Rolle des Vaters. Man kann das System so beschreiben, dass die Frau die Besitzerin ist und der Mann der Manager. Politik und alles Repräsentative ist hauptsächlich Männersache. Allerdings bekommen Mädchen mehr Bildung als Jungs, und ich fand bei den Khasi auch die Mädchen und Frauen forscher und selbstbewusster als die Jungs und die Männer.
Das sind allerdings Verhältnisse, die sich durch die Modernisierung immer mehr auflösen –Menschen ziehen von Land in die Städte und leben immer weniger in Großfamilien zusammen, sondern in Kleinfamilien – das beeinflusst die Geschlechterverhältnisse.
Außerdem gibt es in Meghalaya “Männerrechtsgruppen”, wobei deren Anliegen mit Männerrechten genauso wenig zu tun haben wie die der hiesigen “Männerrechtler”, und die aus irgendeinem Grund die Männer für den Frauen überlegen halten.
Du bist immer wieder in verschiedensten Teilen der Welt unterwegs und hältst deine Erfahrungen grafisch fest, richtig? Was fasziniert dich daran?
In fremde Welten einzutauchen, bedeutet nicht nur Neues und Unbekanntes zu erleben, sondern dabei auch sich selbst immer wieder gegen neue Dinge zu reflektieren, abzugleichen, sich zu erweitern, zu entwickeln, zu lernen: Es geht darum, das Menschliche und Menschenmögliche in allen seinen Facetten zu erfahren und zu erforschen.
Welche Rolle spielt für dich Feminismus?
Ich bin natürlich Feministin. Aber ich würde mich nicht als feministische Künstlerin bezeichnen, da es mich höchstens punktuell interessiert, mich mit dem Thema künstlerisch auseinanderzusetzen – wobei eine feministische Denkweise natürlich in das, was frau produziert, oft hineinspielt.
Seit ich bei den Khasi war, interessiert mich allerdings das Thema matriarchale Gesellschaften sehr. Diesen Februar war ich bei den Minangkabau in Westsumatra, der größten matrilinearen und matrilokalen Kultur überhaupt – und ich würde gerne in der Zukunft noch weitere matriarchale Gesellschaften besuchen. Mich interessiert es, nicht nur zu wissen, sondern zu erleben, wie man Gesellschaften anders als patriarchal strukturieren kann und wie man Geschlechter- und Familienverhältnisse und damit ganze Gesellschaften überhaupt unterschiedlich organisieren kann. In diesen Gesellschaften, die natürlich, auch wenn sie matrilokal und matrilinear organisiert sind, trotzdem teilweise sehr patriarchal sind, nach Resten von matriarchaler Kultur zu suchen, finde ich sehr spannend.
Interview: Judith Mittelberger