Anlässlich des Tages des Gedenken an die Opfer des Holocausts sprechen wir heute mit Sabine Mayr. Die Literaturwissenschaftlerin und Geschichtsforscherin widmet sich seit Jahren der Suche nach verlorenen und verdrängten jüdischen Geschichten in Südtirol. Lange Zeit wurde über die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Südtirol nicht gesprochen.
2018 hat das Frauenmuseum zusammen mit der Urania und der jüdischen Gemeinde Meran die Veranstaltungsreihe „Erinnerungen an damals – Zeitzeuginnen erzählen“ abgehalten. Frauen mit jüdischen Wurzeln haben in einem Zeitzeuginnengespräch von ihrem Schicksal berichtet. Gut, dass es engagierte Menschen in Südtirol gibt, die sich immer wieder für den Erhalt dieser Geschichte stark machen, so wie Sabine Mayr.
Erzählst du uns von deiner Recherchearbeit?
Bis zum heutigen Tag lässt im öffentlichen Raum die Sichtbarkeit der engagierten Persönlichkeiten der einstigen jüdischen Gemeinde in Meran sehr zu wünschen übrig. Einzig die Synagoge, der seit 1908 genutzte, jüdische Friedhof, der Name der Anne-Frank-Straße und einige mittlerweile erstellten Texttafeln zeugen von der einst sehr beeindruckenden Aufbauleistung der jüdischen Gemeinde, die mit dem jüdischen Kurarzt Raphael Hausmann und den Kaufleuten und Bankiers Biedermann in den 1860er Jahren begonnen hatte. Sehr bedauerlicherweise wurde im vergangenen Jahr ein Vorstoß von Bürgermeister Paul Rösch für die längst fällige Umbenennung einer Straße durch rechtes, parteitaktisches Kalkül verhindert.
Wie bist du deine Recherchen angegangen?
Je mehr Joachim Innerhofer und ich im Archiv der jüdischen Gemeinde, im Meraner Stadtarchiv und im Meraner und Bozner Grundbuch weiterforschten – die Präsidentin der jüdischen Gemeinde Elisabetta Rossi bestärkte uns darin –, desto deutlicher erlangten wir die Erkenntnis, dass in der Erforschung der einstigen jüdischen Gemeinde Merans noch sehr, sehr viel zu tun war. Ein nächster wichtiger Schritt war die Kontaktaufnahme und die sehr kooperative und ermutigende Mitarbeit von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und von Nachkommen einstiger, jüdischer Familien Südtirols, in mehreren Städten Italiens, in Israel, London, Frankreich, Deutschland oder in den USA. Hier hat sich ein wunderbares Potential eröffnet, das Südtirol unbedingt besser nutzen sollte, als bisher geschehen ist. Auf der Grundlage der ersten Erkenntnisse erstellten wir eine Datenbank mit den Namen der einstigen Mitglieder und Förderer der jüdischen Gemeinde in Meran, darunter sind auch viele Kurgäste, deren familiäres Umfeld allerdings weniger bekannt ist.
Ich habe zahlreiche weitere Archive konsultiert: Archive jüdischer Gemeinden, in mehreren Städten Italiens, ganz besonders aber jenes der jüdischen Gemeinde in Wien, Melderegister verschiedenster Städte, Staatsarchive, das Archiv des Internationalen Roten Kreuzes in Bad Arolsen, Archive von Gedenkstätten, mehrere Archive in Israel, vor allem das Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, mehrere in Rom befindliche Archive, das Archiv des Bozner Gefängnisses, der Südtiroler Rechtsanwalts- und Ärztekammer, des Handelsregisters und glücklicherweise auch zahlreiche Privatarchive. Zuletzt habe ich noch Geburts-, Heirats- und Sterberegister der Pfarre St. Nikolaus und des Landesrabbinats in Hohenems berücksichtigt.
Wie viel hast du schon aufarbeiten können?
Derzeit verfügt die Datenbank des Jüdischen Museums in Meran über mehr als 5.000 Einträge, aber es bleibt, wie gesagt, noch viel zu tun. Für das Buch „Mörderische Heimat. Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran“ (Raetia) haben wir die leidvollen Geschichten von 150 Opfern der Schoah rekonstruiert. Dabei stützten sich unsere Recherchen natürlich auch auf vorangegangene Forschungen, vor allem von Liliana Picciotto, Federico Steinhaus und Cinzia Villani.
Kannst du uns ein Beispiel einer Geschichte nennen?
Wir haben in den vergangenen Jahren für das Jüdische Museum Meran mehrere virtuelle Rundgänge erstellt, in denen die entsprechenden Orte Merans aufgezeigt werden.
Der den Stolpersteinen gewidmete, virtuelle Rundgang erzählt zum Beispiel von Jenny Vogel, geborene Dienstfertig, die 1866 in Frankenstein (Ząbkowice Śląskie) in Schlesien geboren wurde und wie weitere Opfer zum Gedeihen des Kurortes Meran wesentlich beigetragen hatte. Jenny und Markus Vogel lebten seit 1891 in Meran und verwalteten das das 1893 eröffnete, jüdische Genesungsheim, ein bald international bekanntes Wohltätigkeitsprojekt der jüdischen Gemeinde. Markus war Vorbeter und Religionslehrer der jüdischen Gemeinde. Später betrieb Jenny eine koschere Küche in der heutigen 30.-April-Straße Ecke Carducci-Straße. Am 22. August 1938 wurde Jenny Vogel von faschistischen Behörden als jüdische Einwohnerin Italiens erfasst. Sie verlor ihre 1922 erworbene italienische Staatsbürgerschaft und musste unter dem Druck der Rassengesetze ihre Pension schließen und verkaufen. Am 16. September 1943 wurden Jenny und Ernestine Vogel von in den Sicherheitsdienst (SD), in der Gestapo und SS eingegliederten Männern des „Südtiroler Ordnungsdienstes“ (SOD) ins KZ Reichenau bei Innsbruck deportiert. Im Frühjahr 1944 wurden sie vermutlich ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überstellt. Verzweifelt versuchten in die USA geflüchtete Verwandte nach Kriegsende in Meran Informationen über Jennys und Tinis Verbleib zu erhalten.
Welche Bücher hast du schon publiziert?
Es war in den letzten Jahren sehr schön zu erfahren, dass hinter den vielen ermittelten Namen nicht nur sehr viele, sehr traurige, leidvolle und verzweifelte Erfahrungen stehen, sondern auch ein bewundernswertes, zukunftsorientiertes, geradezu pädagogisches Bemühen, das mich immer mehr anzog, sodass ich es weiter erforschen wollte. Viele untersuchte Persönlichkeiten zeigten ein vorbildliches und inspirierendes soziales Engagement und traten mit fortschrittlichem Optimismus für eine bessere Gesellschaft ein. Sie waren von den Einwohnern, Einwohnerinnen und der schönen Landschaft des damaligen südlichen Tirols, später Südtirols, begeistert, verachteten allerdings die politische Instrumentalisierung religiöser Frömmigkeit oder gesellschaftlicher Ausgrenzung. Hier, in Meran, kämpften sie nicht nur gegen den jahrhundertealten, christlichen Antisemitismus, der von klerikal-konservativen Politikern immer wieder dazu benutzt wurde, um liberale, demokratische Ideen aus dem Land zu verbannen, sondern auch allgemein gegen Bevormundung und Unterdrückung. Das habe ich in meiner überarbeiteten Doktorarbeit herausarbeiten können, die vor zwei Jahren erschienen ist („Von Heinrich Heine bis David Vogel. Das andere Meran aus jüdischer Perspektive“, Studienverlag, 2019). Über die Ergebnisse war ich selbst verblüfft.
Vorher habe ich mit Joachim Innerhofer das Buch „Mörderische Heimat. Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran“ im Raetia Verlag veröffentlicht, zu dem viele jüdische Familien beigetragen haben, die eigentlich als KoautorInnen erwähnt werden müssten. Dank ihrer Hilfe haben wir 2017 eine überarbeitete, um mehr als 100 Seiten ergänzte, italienische Fassung veröffentlichen können.
Ich habe 20 Jahre lang in Wien gelebt. Damals habe ich eine Biografie über die Familie des Herrn Albert Sternfeld verfasst und weitere Bücher mit KoautorInnen, mit dem Politologen Anton Pelinka und Karin Liebhart „Die Entdeckung der Verantwortung. Die Zweite Republik und die vertriebenen Juden“ (1998) und mit Evelyn Adunka und Dieter Hecht „Brücken, Beziehungen, Blockaden. Initiativen und Organisationen in Österreich und Israel seit 1945“ (2007). Neben vielen kleineren Beiträgen für verschiedene Medien habe ich vor langer Zeit auch einmal einen Aufsatz mit Martin Reisigl verfasst, Professor für Linguistik der Uni Wien (“Muso ardito e strafottente / intonato alle scarpe coi chiodi” – Faschismus und literarische Antimoderne bei Strapaese, 1998).
Sabine Mayr und Joachim Innerhofer recherchieren weiter und sind weiterhin für Hinweise jeder Art dankbar.
Interview: Sissi Prader und Judith Mittelberger