In Österreich haben die FPÖ und ÖVP einen Gesetzesantrag eingereicht, der Sexualpädagogik Unterricht durch externe Fachkräfte an Schulen verbieten soll. Am 3. Juli wurde dem Antrag im Parlament mit der Mehrheit von FPÖ und ÖVP zugestimmt. Ob das Gesetz zum Tragen kommt oder nicht, hängt von der neuen Regierung ab, die im September gewählt werden soll. Gegen das Gesetz rührt sich Widerstand: Nach einer Kundgebung und einer ersten Unterschriftenaktion, gibt es jetzt eine weitere Petition: #redmadrüber – Für qualitätsvolle Sexualpädagogik an Österreichs Schulen! Da aufgrund der aktuellen italienischen Regierung auch bei uns so ein Wind weht, schauen wir mal über die Grenze hinaus zu unserem Nachbarland.
Aus diesem Anlass haben wir mit der Sexualpädagogin Daniela Schwienbacher aus Innsbruck ein Interview geführt und sie nach ihrer Meinung, ihrer Einschätzung und ihren Erfahrungen gefragt.
Frau Schwienbacher, möchten Sie sich uns kurz vorstellen?
Ich bin geboren und aufgewachsen im Vinschgau. Derzeit lebe, arbeite und studiere ich in Innsbruck. Neben meinen beiden Studien „Gender, Kultur und Sozialer Wandel“, sowie „Erziehungswissenschaften“ habe ich die Ausbildung zur Sexualpädagogin absolviert. Seitdem arbeite ich als Sexualpädagogin für die Aids-Hilfe in Tirol. Hauptsächlich bin ich diesbezüglich für die Arbeit mit jungen Frauen* und Mädchen* zuständig. Das ist eine sehr wichtige und schöne Aufgabe.
Würden Sie uns – um besser verstehen zu können, was verboten werden soll – kurz erklären was die Aufgaben und Tätigkeiten von Sexualpäda_goginnen (an Schulen) sind?
FPÖ/ÖVP wollen sexualpädagogische Unterrichtseinheiten an Schulen verbieten — sofern sie von schulexternen Fachpersonen geleitet werden. Am selben Tag, als dieser Antrag im Parlament Zustimmung fand, wurde auch beschlossen, dass künftig vermehrt schulexterne Expert/en*innen in den Sportunterricht eingeladen werden sollen. Es geht also nicht darum Geld einzusparen, sondern spezifisch um das Thema Sexualität. Relativ zeitgleich läuft übrigens eine Kampagne, die von FPÖ- und ÖVP-Politiker*innen unterstützt wird und sich #fairändern nennt. Ziel dieser Aktion ist es, das Abtreibungsgesetz in Österreich einzuschränken. Derzeit haben wir in Österreich also eine breitere Strömung, die gegen fundamentale Persönlichkeitsrechte mobil macht.
Grundsätzlich baut Sexualpädagogik, die sich an den WHO-Richtlinien und Menschenrechten orientiert, auf zwei Pfeiler auf: Gesundheitserziehung und Gewaltprävention. Wenn ich mit der Aids-Hilfe unterwegs bin, spreche ich natürlich sexuell übertragbare Krankheiten an und wie sich Menschen davor schützen können; aber auch die soziale Stigmatisierung von Menschen mit HIV. Nicht, um den Schüler/n*innen Angst zu machen, sondern um sie zu informieren. Von da aus komme ich meist sehr schnell zum Thema Verhütung. Das alles funktioniert nicht, ohne über Geschlechtsorgane zu sprechen: ihnen Namen zu geben, über das Hymen aufzuklären — die Klitoris als weibliches Lustorgan zu benennen. Ebenso wichtig ist es mir, jungen Frauen* und Mädchen* ein Reflexionsinstrument mit auf den Weg zu geben, anhand dessen sie überlegen können, ob sie bestimmte Berührungen gerne mögen oder nicht. Dabei möchte ich sie dazu ermutigen, mögliche Zweifel zu kommunizieren. Immer wieder komme ich auch auf das Klogehen zu sprechen und darüber, wie Frauen* Infektionen und Entzündungen, sowie Inkontinenz vorbeugen können. Menstruation — insbesondere Menstruationsbeschwerden — sind fast immer Thema. Ebenso sexuelle und geschlechtliche Vielfalt.
Prinzipiell achte ich darauf, welche Themen in der Klasse da sind und gehe darauf ein. Dazu arbeite ich beispielsweise mit anonymen Fragebögen oder Brainstorming in kleineren Wohlfühl-Gruppen. Immer wieder erfahre ich dabei, wie wichtig es ist, dass eine Person da ist, der die Schülerinnen* Fragen stellen können, die sie sich sonst nicht zu stellen trauen. Beim Thema Pornographie wird dies nochmals deutlicher.
Sie arbeiten in Nordtirol. Wie ist dort Sexualerziehung an Schulen organisiert?
Prinzipiell ist das Thema Sexualität in den österreichischen Lehrplänen verankert und sollte im Unterricht behandelt werden. Einige Lehrpersonen behandeln dieses Thema im Unterricht selbst — andere holen externe Fachkräfte an die Schulen. Die Entscheidung, wie der Sexualkundeunterricht organisiert wird, obliegt in Österreich den Lehrpersonen und der Schulleitung.
Wie wird Ihre Arbeit als sexualpädagogische Fachkraft von Schül_erinnen und dem Lehrpersonal angenommen? Welches Feedback erhalten Sie?
Die Lehrpersonen sind in der Regel froh, dass es externe Expert/en*innen gibt, die ihnen dieses Thema abnehmen. Da Sexualpädagogik in der Lehrer*innenausbildung so gut wie nicht vorkommt, sehen sich die meisten Lehrpersonen vor eine große Aufgabe gestellt, die sie gerne abgeben.
Die Schüler*innen genießen diese Zeit ohne Notendruck sehr. Wenn es mir gelingt, einen sicheren Raum herzustellen, sprechen sie durchaus offen ihre Fragen aus und können sich gegenseitig auf einer ganz anderen Ebene begegnen, als dies im regulären Unterricht der Fall ist. Leider gelingt dies nicht immer, weil entweder Konflikte in der Klasse grad sehr stark da sind oder die Schüler*innen nervös sind, da sie gleich anschließend eine Schularbeit zu schreiben haben. Die Rahmenbedingungen sind sehr verschieden, aber es ist jedes Mal eine schöne Herausforderung, ihnen zu begegnen.
Wie steht es Ihrer Einschätzung nach um das Wissen rund um Sexualität in der Gesellschaft/Bevölkerung?
Es gibt wohl kaum ein Thema, das gleichzeitig derart mythenumwoben und alltagsrelevant ist wie die Sexualität. Das Wissen um die sexuelle Entwicklung von Kindern beispielsweise zählt nach wie vor zum „Geheimwissen“. Gesellschaftlich wird es leider vom Diskurs rund um „Frühsexualisierung“ überlagert, der von rechten und religiösen Kreisen gerne herangezogen wird, um gegen Sexualpädagogik zu argumentieren. Entsprechend heißt es dann, Kinder hätten gar keine Sexualität, diese würde ihnen von Sexualpädagog/en*innen „eingeredet“. Dabei wäre es so wichtig, zwischen kindlicher* und erwachsener* Sexualität zu unterscheiden und dieses Wissen für Gewaltprävention zu nutzen.
Was mich von Beginn meiner Tätigkeit als Sexualpädagogin bis heute am meisten schockiert: In jeder Mädchen*gruppe werde ich früher oder später gefragt, ob „das erste Mal“ weh tut. Das Gerücht, „das erste Mal“ müsse wehtun und die Frau* müsse bluten, hält sich leider bis heute. Haben die Mädchen* dann auch noch Pornoerfahrung, schleppen sie häufig viele Fragen und Ängste mit sich herum. Einmal tauchte gar die Frage auf, warum Frauen* überhaupt Sex mit Männern* haben, wenn’s eh nur weh tut. Das macht mich traurig. Sex ist nur solange Sex, wie er schön und lustvoll ist; sobald Sex weh tut, handelt es sich um Gewalt. Die Gesellschaft vermittelt jungen Mädchen aber: Wenn es weh tut, ist es genau richtig — „das erste Mal“ muss wehtun. Dieser Diskurs bietet eine Steilvorlage für Gewalterfahrungen.
Parallel dazu ist gesellschaftlich ein großes Schweigen bzgl. weiblicher Sexualorgane zu beobachten: In kaum einer Klasse kann mir jemand* sagen, was das Hymen genau ist, wie die Klitoris aussieht oder welche Funktion sie hat. Selbst Erwachsene wissen kaum, wie eine Erektion bei Frauen* aussieht und dass die Vagina sehr eindeutige Signale sendet, ab wann sie dazu bereit ist, einen Penis, einen Finger oder einen Gegenstand aufzunehmen. Dieses Wissen fehlt in sämtlichen Aufklärungsbüchern. In den meisten Schulbüchern und anatomischen Darstellungen ist die Klitoris immer noch als kleiner Punkt angegeben — das ist einfach falsch! Da greife ich gerne auf Frauen*bücher der 1970er- und 80er-Jahre zurück, die sich darauf spezialisiert haben, Wissen von Frauen* an Frauen* weiterzugeben.
Welche Folgen würde eine Abschaffung des Expert_innen-Unterrichts durch Sexualpä_dagoginnen an Schulen, Ihrer Meinung nach, haben?
Mit Sexualität wird Politik gemacht. Über das Thema werden Moralvorstellungen politischer Mächte transportiert. Die ÖVP/FPÖ bedient mit diesem Antrag eindeutig eine bestimmte religiös-fundamentalistische Wähler*innengruppe. Leider wird damit politisch diese sehr restriktive Sexualmoral hoffähig gemacht — das politisch Sagbare verändert sich. Anhand der Beobachtung von Diskussionen in Sozialen Medien ist festzustellen, dass Grundwerte wie die WHO-Richtlinien und die Menschenrechte fundamental infrage gestellt werden. Das schockiert mich. Da soll etwa das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper neu verhandelt werden oder das Recht Homosexueller, nicht diskriminiert zu werden. Natürlich sind Diskussionen in Sozialen Medien nicht gleich Diskussionen in politischen Gremien; dennoch zeigt auch der politische Versuch, die Abtreibungsrechte einzuschränken, deutlich auf, dass es sich hier um eine breitere politische Strömung handelt. Damit werden feministische Rufe der 70er und 80er Jahre wie etwa „Mein Körper gehört mir!“ wieder hoch aktuell. Das ist erschreckend und es muss uns alle empören!
Wie kann man dafür argumentieren, dass es weiterhin Sexualkundeunterricht durch externe Fachkräfte an Schulen braucht?
Die Argumentationsstränge dafür sind sehr vielfältig. Zum einen können Lehrpersonen sehr gut für externe Fachkräfte im Sexualkundeunterricht argumentieren, indem sie einfach darauf hinweisen, dass sie dafür nicht ausgebildet sind. Im pädagogischen Alltag kommen (je nach Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung) immer wieder sexualpädagogische Fragen auf, mit denen Lehrer*innen überfordert sein können. Insbesondere zum Thema Gewalt bräuchte es intensivere Schulungen für Lehrer*innen. Schließlich sollten Lehrpersonen auch Vertrauenspersonen sein.
Zum anderen unterstützen Schüler*innenorganisationen die Petition #redmadrüber und stellen sich damit aktiv hinter qualitätsvolle Sexualpädagogik. An Schulen erlebe ich immer wieder die Erleichterung von Schüler*innen, nicht mit ihren (Biologie-)Lehrer*innen über Sexualität sprechen zu müssen, sondern eine Alternative angeboten zu bekommen.
Auch Eltern sind häufig froh, wenn ihre Kinder zusätzlich zur Familie Ansprechpartner*innen finden, denen sie brennende Fragen stellen können. In manchen Familien wird das Thema Sexualität immer noch gänzlich ausgespart — dann kann es Eltern schwer fallen, darüber mit ihren Kindern ins Gespräch zu kommen, wenn es konkret ansteht. Hier geht es viel um Sprache: Eltern, die ihren Kindern beispielsweise von Beginn an lernen, Geschlechtsorgane genauso zu benennen, wie sie es mit Händen, Fingern oder der Nase auch machen, haben später weniger Schwierigkeiten, eine gemeinsame Sprache mit ihren Kindern zum Thema Sexualität zu finden.
Für uns Sexualpädagog*innen geht es natürlich um das berufliche Überleben. Daneben wäre es wichtig, Gesundheitsvorsorge und Gewaltprävention an Schulen zu stärken, anstatt abzubauen. Außerdem muss es Alternativen zu jenen Informationskanälen geben, über die sich Kinder und Jugendliche ihr Wissen über Sexualität zusammensuchen (d.i. in erster Linie das Internet, aber auch über Freunde; Eltern und die Schule sind im Jugendalter meist nicht die Hauptinformationsquelle).
Vielen Dank für das Interview!
Derweilen ist auch die österreichische Abgeordnete Stephanie Cox aktiv geworden und hat das österreichiche Parlament zu Sexualkundeunterricht eingeladen:
Yvonne Rauter