Den Anfang in unserer neuen Rubrik #leselust macht Ulrike Steinhäusl mit ihrem ersten Literaturtipp. Sie stellt uns kurz das Buch der heute 81-Jährigen Helga Schubert „Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten“ vor. Wir sind gespannt!
Heute schreibe ich zum ersten Mal für den Blog des Frauenmuseums Meran und bin dabei ein bisschen aufgeregt. Denn ich muss gestehen, ich habe noch nie etwas gebloggt. Rezensionen, Buchtipps und literaturwissenschaftliche Artikel habe ich viele verfasst, ja, aber die Direktheit des Blogs scheint mir anders zu sein. Dabei wird es ja gar nicht um mich selbst, sondern um Bücher gehen. Um Bücher, die es meiner Meinung nach wert sind, gelesen zu werden. Zwar gibt man als empfehlende Schreiberin nicht allzu viel von sich preis, vielmehr baut man Brücken, die manchmal schmal und wackelig sind, um zu den Menschen am anderen Ufer zu gelangen und diese davon zu überzeugen, gerade diesen Text in die Hände zu nehmen. Sind es vor allem jüngere Leserinnen, die sich für so einen Blog interessieren, frage ich mich. Hoffentlich können sie dann mit Büchern von alten Frauen was anfangen und vor allem mit Meinungen einer Bloggerin, die selbst nicht mehr jung ist. Die zu besprechenden Autorinnen werden teils sehr jung, in den besten Jahren oder schon alt sein, manche sind bereits tot. Die literarische Wanderschaft wird querbeet durch Kulturen und Epochen gehen.
Gewählt habe ich für meine Premiere am Frauenmuseum ein Leben in Geschichten mit dem Titel „Vom Aufstehen“ von Helga Schubert (1940 Berlin). Die Autorin ist also bereits einundachtzig und hat mit der titelgebenden Geschichte voriges Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Inzwischen ist das Buch zum Spiegel-Bestseller avanciert. Vielleicht kommt jetzt ein abfälliges „ach so“. Aber bitte Vorurteile verbannen, zuerst lesen und danach urteilen. Die Autorin wohnt mit ihrem pflegebedürftigen Mann, dem Maler Johannes Heim, im Hinterland der Ostsee, irgendwo zwischen Schwerin und Wismar. Die Teilnahme am Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt war nur möglich, weil im Corona-Jahr alles digital lief, denn sie wollte ihren Mann nicht mehr allein lassen. Ein Durchbruch mit achtzig Jahren: Besuche von Journalisten, Interviews, Radiosendungen, Ärger wegen einiger kritischer Sätze zur bereits verstorbenen, berühmten Dichterkollegin und Freundin Christa Wolf.
Helga Schubert arbeitete früher auch als Psychotherapeutin in der DDR, ihre empathische Klarsicht gegenüber Menschen hat möglichweise davon profitiert. Als freie Schriftstellerin hatte sie im Osten Deutschlands einen Namen, war jedoch im Ausland kaum bekannt. Sie hat kein einheitliches Werk aufzuweisen und gehörte keiner literarischen Gruppe an. Sie pries weder das System, noch verließ sie die DDR wie etwa Sarah Kirsch oder Biermann. Der späte Erfolg und unerwartete Durchbruch ist der Autorin eher unheimlich, denn Bäume dürfen nicht in den Himmel wachsen, das hatte sie als Kind nur zu gut gelernt.
In 29 kurzen Geschichten führt uns die Schriftstellerin mit leiser persönlicher Stimme durch ihr Leben. Vom idealen Ort der Kindheit bei ihrer Oma in Greifswald bis zum Leben im Alter und den Ritualen des Aufstehens. Der Vater ist mit 28 Jahren von einer Handgranate tödlich getroffen worden. Sie ist ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung, das zu viele Tränen gesehen hat. Beim Fall der Mauer war sie immerhin fast fünfzig Jahre alt. Man soll ja als Schriftstellerin etwa fünfzehn Jahre Distanz benötigen, bis man von einem wichtigen Ereignis literarisch erzählen kann. Und das versucht sie nun ganz ohne Pathos. Das ist ihr besonders wichtig, denn Pathos gab es in der DDR immer im Überfluss. Die Beschreibungen der Innenansichten der DDR aus dem Blickwinkel einer Outsiderin, die gleichwohl die Regeln des Ostens begriffen und befolgt hatte, sind hoch interessant. Als roter Faden ganz persönlicher Färbung zieht sich durch das Buch die Beziehung zur Mutter, die mit über hundert Jahren gestorben ist. Schon selber Großmutter fühlt sich die Schriftstellerin immer wieder von ihr verletzt und ist jedes Mal, wenn sie sie besucht voll tiefer Angst vor den Verwundungen. Eigentlich kann sie gar nicht begreifen, dass diese Frau ihre Mutter ist, und würde sich am liebsten vor ihr zurückziehen. Wie eine evangelische Pastorin ihr dabei hilft, mit den sie plagenden Schuldgefühlen fertig zu werden, gehört für mich zu den berührenden Stellen des Textes. Denn im Vierten Gebot, ist nicht von Liebe die Rede, wie Schubert sich das eingebildet hatte, sondern nur davon, dass man Vater und Mutter ehren möge, auf dass es ihnen wohlergehe. Denn „Liebe ist etwas Freiwilliges, ein Geschenk“. Was für eine Erlösung!
Und niemand könnte es besser ausdrücken als die Autorin, was Schreiben letztlich für sie bedeutet:
Die guten Geschichten sind wie das Leben tragikomisch. Plötzlich reißt mich die Geschichte aus dem Mitleid in die Ironie, aus der Ironie in die Verachtung, aus der Verachtung ins Verständnis. Und alles in dem Moment, in dem ich mich auf eine Sicht eingelassen hatte. Nichts ist klar so oder so, erfahre ich beim Schreiben oder spätestens beim Lesen.
Marie von Ebner-Eschenbach hat es so gesagt:
Nicht, was wir erleben, sondern wie wir erleben, was wir erleben, macht unser Leben aus.
Den Worten dieser weisen Frauen habe ich nichts mehr hinzuzufügen.
Hier der Link zum Buch: Vom Aufstehen – Produkt (buchkatalog.de)