“Und der Himmel verhieß heuer eine gute Ernte, ließ die Mandelbäume und Pfirsichsträucher im Talgrund in üppiger Blüte prangen; und dieser, eingesäumt von zwei weißen Hügelketten, mit den blaudunstigen Bergen fern im Westen und dem schimmernden Meer im Osten, war wie eingebettet in grüne und blaue Schleier, darunter der Fluss seine einschläfernde Weise murmelte.”
(aus: „Canne al vento“, Übersetzung 1930)
Grazia Maria Cosima Damiana Deledda, eine sardische Schriftstellerin, zeichnet sich durch ihre beeindruckenden Naturbeschreibungen aus. Das Zitat stammt aus ihrem Roman “Canne al vento” (1913), welcher als ihr Lieblingsroman gilt.
Deledda ist bekannt für ihre Geschichten über menschliche Schicksale aus Nuoro, einer kleinen Stadt am Fuße des Monte Ortobene und der wilden Barbagia, einer unwirtlichen Bergregion mit rauem Klima, unzugänglichen Dörfern und stolzen Bewohnern.
Sie wurde am 27. September 1871 in Nuoro als fünftes von sieben Kindern geboren. Ihr Vater, ein angesehener Kaufmann und Dichter, war Bürgermeister der Stadt und handelte mit Kork, Kohle und Käse. Deleddas Mutter war Analphabetin und widmete sich der großen Familie. Ihr ruhiges und fast rätselhaftes Wesen wird in ihrem autobiografischen Roman “Cosima” beschrieben.
“Von kleiner Gestalt, mit breitem Kopf, den winzigen Händen und Füßen, hatte sie alle charakteristischen äußeren Merkmale der Frauen ihrer – vielleicht libyschen – Rasse. Das Profil war etwas stumpf, das Gebiss kräftig, die Oberlippe stark verlängert. Aber sie hatte eine weiße, samtige Haut, sehr schöne schwarze, leicht gewellte Haare und große, mandelförmige Augen von jenem goldenen Schwarz, das manchmal grün schimmert und die große Pupille der hamitischen Frauen, die ein lateinischer Dichter „die doppelte Pupille“ nannte und deren Aufblitzen unwiderstehlich ist.”
Sie war ein begabtes Mädchen, konnte schon vor der Schule lesen und schreiben. Obwohl sie nur bis zur vierten Klasse zur Schule ging und zu Hause nur sardischen Dialekt sprach, lernte sie im Privatunterricht Italienisch, Französisch und Latein. Schon von klein auf interessierte sie sich für Literatur und las alles Mögliche, von der Bibel über italienische Romane bis hin zu großen ausländischen Autoren. Mit 17 Jahren veröffentlichte sie ihre erste Novelle “Sangue Sardo” in einer römischen Zeitung. Sie stieß jedoch in Nuoro auf Ablehnung. Die Menschen waren es nicht gewohnt, Frauen außerhalb des Haushalts tätig zu sehen.
Selbst ihre Verwandten waren gegen ihre Schriftstellerei, da sie befürchteten, dass keine Männer eine Frau heiraten würden, die schreibt, und dass dies ihre Familie und das Land in Misskredit bringen würde.
Grazia Deledda schrieb lange Zeit im Verborgenen aufgrund von Anfeindungen. Neben wirtschaftlichem Wohlstand ereigneten sich auch tragische Ereignisse in ihrer Familie, wie der Abbruch des Medizinstudiums ihres Bruders aufgrund von Alkoholismus und die Kriminalität eines anderen Bruders. Zudem starb ihr Vater 1892 an einem Herzinfarkt und vier Jahre später auch ihre Schwester Vincenza. Obwohl es in Nuoro zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein kulturelles Leben gab und prominente Männer im Caffè Tettamanzi verkehrten, spielte sich das Leben – insbesondere für Frauen – weit entfernt von der Welt ab. Der eintönige Alltag wurde nur durch Volksfeste und den Karneval belebt.
Im Jahr 1899 zog Grazia Deledda nach Cagliari, der Hauptstadt von Sardinien, in der Hoffnung, ein besseres literarisches Umfeld vorzufinden.
Dort traf sie auf Palmiro Madesani, einen italienischen Steuerbeamten, den sie im Jahr 1900 heiratete.
Die Autorin zog mit ihrem Mann nach Rom und lebte dort bis zu ihrem Tod. Ihr ganzes Leben lang widmete sie sich sowohl den familiären Pflichten – sie hatte zwei Kinder – als auch der literarischen Tätigkeit. Ihr Ehemann war ein großer Förderer und Mitarbeiter ihrer Arbeit. An den politischen, sozialen und literarischen Debatten ihrer Zeit nahm sie kaum teil. Ihre Entdeckung war Sardinien, das sie der Welt bekannt machen wollte. Ihre Texte handelten nicht von historischen Ereignissen, sondern beschrieben detailliert die zeitlose Welt der jahreszeitlichen Veränderungen, der Menschen und Alltagsgegenstände. 1908 nahm sie an dem von Maria Montessori organisierten ersten italienischen Frauenkongress teil.
In dem posthum veröffentlichten Buch “Cosima” (1937) gibt sie eine Beschreibung ihrer selbst.
Deledda verfasste über 350 Novellen, 30 Kurzgeschichten, 8 Fabeln, 15 Skizzen, 35 Romane und zahlreiche Briefe.
Ihr wichtigstes Buch “Canne al vento” aus dem Jahr 1913 wurde mehrfach von verschiedenen Verlagen veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt. Es erzählt die Geschichte der drei Schwestern Ruth, Noemi und Esther Pintor sowie des Arbeiters Efix und bietet einen Einblick in die archaische und sinnliche Naturwelt der Insel, die von magischen Wesen und Kräften belebt wird. Deledda ist die einzige italienische Schriftstellerin und die einzige Sardin, die den Literaturnobelpreis erhalten hat.
Dieser wurde ihr 1926 verliehen, da ihre von Idealismus inspirierten Werke das Leben auf ihrer Heimatinsel lebendig und klar beschreiben und die Probleme des menschlichen Lebens im Allgemeinen mit Tiefe und Wärme behandeln. Sie ist die zweite Frau nach Selma Lagerlöf, der dieser Preis verliehen wurde (1909).