Blog vom Frauenmuseum Il Blog del Museo delle Donne
Frauenmuseum | Museo delle donne

„Diese Szenen konnte ich nicht mit mir vereinbaren“

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Als sie 2015 die Situation von Flüchtenden am Bozner Bahnhof hautnah miterlebt hat, war Irene Sanmartino tief getroffen. So entstand das Bedürfnis zu handeln und die Idee zu Binario1-Bahngleis1. Im Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen, wie diese ihren beruflichen Weg geprägt haben und warum ihr Frauenthemen so wichtig dabei sind.

Seit wann interessierst du dich für Frauenfragen?

Spontan würde ich sagen: wahrscheinlich, seit ich als Frau geboren bin. Dass es so etwas wie Frauenthemen gibt, habe ich dann erfahren, als ich das Frauenmuseum kennengelernt habe.

Du bist schon lange mit dem Frauenmuseum verbunden. Wie ist diese Verbindung entstanden?

Aus meiner Jugend. Ich hatte das Glück in einem Umfeld mit vielen tollen Frauen aufzuwachsen, und unter diesen befanden sich auch Astrid Schönweger und Sissi Prader. Ich erinnere mich noch gerne an die Räumlichkeiten des Frauenmuseums unter den Lauben, und vor allem an das Büro voller Bücher und beschriebenem Papier. Als Jugendliche haben wir gemeinsam mit Astrid dort am Skript für ein Musical über die 70er Jahre geschrieben, das wir dann im Stadttheater aufgeführt haben. Eine kurze Stelle im Text kenne ich bis heute noch auswendig. Später habe ich in den Schulferien am Empfang ausgeholfen und nach dem Umzug in die Meinhardstraße in den neuen Räumen ein Praktikum gemacht und gelegentlich mitgearbeitet. Dort mag ich die Bibliothek besonders gerne.

Für mich ist das Frauenmuseum eine Welt, die mich immer wieder zur Weiterentwicklung, zum „Über-den-eigenen-Schatten-springen“ anspornt, und in der ich mich willkommen und geschätzt fühle. So ist mir zum Beispiel vor einigen Jahren kein besserer Ort für einen Ausflug mit einer Gruppe Asylwerberinnen eingefallen, die gerade erst in Südtirol angekommen waren.

In Norwegen, unterwegs in Richtung Halddetoppen
Erzählst du uns wie du zur Flüchtlingshilfe gekommen bist?

Es war nach dem Studium, als ich zurück nach Südtirol gekommen bin. Ich hatte den Wunsch mich einzubringen, und eine Freundin erzählte mir vom Border Monitoring Projekt der Alexander Langer Stiftung. Um das Projekt kennenzulernen, fuhr ich im Frühjahr 2015 zum Bozner Bahnhof, wo zu jener Zeit regelmäßig Menschen auf der Flucht auf der Durchreise strandeten. Die Szenen, die sich dort vor meinen Augen abspielten, konnte ich nicht mit mir vereinbaren.

Insbesondere erinnere ich mich an eine Person, die am Boden lag, und der es offensichtlich nicht gut ging. Ein Diensthabender kam und bat die Gruppe von Migrant*innen, die sich mit ihr dort befanden, sie hinter die gelbe Linie zu bringen. Diese begleiteten die am Boden liegende Person dann weiter in die Mitte des Bahnsteigs. Wir riefen den Krankenwagen.

Ich hatte das Bedürfnis zu handeln und traf dort an dem Tag zufällig auf andere Frauen, die das genauso empfanden. Wir wollten diese Personen unterstützen und organisierten uns spontan. In kürzester Zeit entwickelte sich daraus die Gruppe Binario1-Bahngleis1.

Wie haben dich diese Erfahrungen geprägt?

Sehr. Durch den Kontakt mit der Lebensrealität von Personen auf der Flucht hat sich meine Perspektive verändert. Vieles hat sich relativiert, anderes ist dazugekommen oder hat plötzlich seine Wichtigkeit gezeigt (wie zum Beispiel der Zugang zu Menstruationsprodukten, über den ich vorher nie wirklich nachgedacht hatte, weil er in meiner Lebensrealität einfach selbstverständlich war). Ebenso habe ich durch diese Erfahrung spüren können, wie wichtig es ist innezuhalten und die eigenen Handlungen kritisch zu hinterfragen.

Du hast in Mals eine Struktur für Flüchtlinge aufgebaut?

So würde ich das nicht sagen. Im späten Frühling 2015 bin ich nach Norwegen gezogen, um dort in einem Museum zu arbeiten. Die Monate am Bozner Bahnhof waren mir aber tief gegangen, und ich begann mich bei verschiedenen Organisationen in Südtirol zu bewerben, die mit Menschen auf der Flucht arbeiten. So wurde ich bald Teil des Teams einer neuen Unterkunft für Asylwerber*innen von Caritas in Mals, wo wir im Herbst 2015 die ersten Hausbewohner*innen willkommen hießen.

2018 entstand dann die neue Beratungsstelle für Personen mit Migrationshintergrund im Vinschgau. Hier war ich hingegen aktiv am Aufbau beteiligt.

Mit den „Guide Invisibili“ durch Roma Termini – Studienreise mit der Projektgruppe des Masterstudiums. Photocredits: Alessandro Sette
Wohin hat dich dein beruflicher Weg weitergeführt?

Während des Aufbaus der Beratungsstelle im Vinschgau bin ich am Wochenende immer nach Venedig gefahren und habe dort den Master in Immigrazione absolviert.

Seit ungefähr einem Jahr habe ich nun mit dem Pendeln aufgehört und arbeite an der Beratungsstelle Moca, direkt in meinem Wohnort Meran.

Siehst du dich als Feministin?

Auf jeden Fall. Feministisches Wissen hilft mir mit den Ungerechtigkeiten, die ich im Alltag (mit)empfinde umzugehen.

Feminismus bedeutet für mich Möglichkeit. Die Möglichkeit für mich selbst gerade zu stehen. Und zwar nicht allein, sondern als Teil einer Gemeinschaft von Frauen; im Bewusstsein, dass wir auf eine lange Tradition von Feministinnen aufbauen können, die vor uns für sich selbst geradegestanden sind, und somit für uns viel erreicht haben.

Meine Freundinnen sind mir sehr wichtig. Ich nenne sie gerne scherzhaft „der Rat der weisen Frauen“. Mit Olivia habe ich mich eine Zeit lang auch regelmäßig zu einem kleinen feministischen Lesezirkel getroffen. Photocredits Simon Profanter
Dein Lebensmotto?

„Non dimenticare mai di pensare sempre con la tua testa.“

Ein Rat von meinem nonno, als er erfahren hat, dass ich an meiner Fakultät mit ein paar Studienkolleg*innen ein Kollektiv gegründet hatte.

Was ist für dich Erfolg?

Wenn ich zufrieden sein kann mit dem was ich erreicht oder geschafft habe.

Erfolg
Wen bewunderst du?

Mutige Menschen; kreative Menschen; schaffende Menschen und denkende Menschen. Menschen von denen ich etwas lernen kann.

Und meine Oma. Sie ist als junge Frau nach dem Krieg von ihrem Heimatdorf im Nonstal alleine in den Obervinschgau gezogen, um dort als Lehrerin zu arbeiten, ein Beruf den sie auch nach der Geburt ihrer fünf Kinder immer weitergeführt hat.

Welche Lebensweisheit hast du im letzten Jahr gewonnen?

Wie wichtig in meinem Leben Bewegungsfreiheit ist; und wie wichtig es manchmal ist loszulassen, um weitermachen zu können.

Bei jeder Gelegenheit packe ich meinen Rucksack und steige in den Zug, um Freundinnen zu besuchen wo sie gerade wohnen. Oder ich fahre einfach alleine los. Hier bin ich zum Beispiel im Iran unterwegs.

 

Interview: Sissi Prader und Judith Mittelberger

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