Unsere Frau des Monat September ist Annamarie Huber, sie war Grundschullehrerin, ist Weiterbildnerin, Schriftstellerin, Chorsängerin, Vorsitzende der Katholischer Frauenbewegung der Pfarre Gries und ist im Diözesanvorstand des kfb tätig.
Sigrid Prader hat mit Frau Annamarie Huber ein sehr persönliches Interview geführt; was Frau Huber über sich zu erzählen hat, lesen Sie hier:
1,2,3 – Das erste Mal, als ich unterrichtet habe, war ich 18; meinen ersten Vortrag habe ich mit 20 gehalten. Daraus wurden 20 Jahre Grundschullehrerin und 30 Jahre Weiterbildnerin mit eigener Mehrwertsteuernummer, als Freiberuflerin und Einzelunternehmen.
Die Zwei steht für meine Kinder. Sie steht auch für die zwei Tätigkeiten, die ich gelebt habe, für das Unterrichten und das Schreiben, für die Lehrerin und die Schreiberin. 140 Mit-in-den-Tag-Sendungen, 7 Jahre Redakteurin und stellvertretende Chefredakteurin bei der pädagogischen Zeitschrift „forum schule heute“, 3 veröffentlichte Bücher, jahrelang Beiträge für den Radius und Webseitentexte für Hotels und Betriebe legitimierten meine Referententätigkeit als Schreibtrainerin für alle Lebensbereiche.
Die Drei steht für die drei Säulen meines pädagogisch-didaktischen Ansatzes: das Thema, das uns zusammengeführt hat, sowie das Du und Ich im interaktiven Dreieck in Gleichwertigkeit, Respekt und Wertschätzung zueinander.
Das war meine Kurzpräsentation vor Seminarbeginn und bezeichnet das Vordergründige und Offizielle, das Berufliche, das einen sehr großen Teil in meinem Leben eingenommen und mir besonders in schweren Zeiten Halt und Struktur gegeben hat. Doch das Schreiben hat mir das Leben gerettet.
Das Hintergründige – Kindheitserfahrungen
Vor 70 Jahren im Grieserhof in Bozen geboren, wohnte ich bis zum Ende der Mittelschule im Schafferhaus vom Kloster Muri-Gries, wo mein Vater seinen Beruf ausübte. Laut meinem Vater kam ich ganz nach meiner Großmutter, Maria Betta Huber, der Wirtin vom Gasthof Huber-Schwarz in Terlan, der Erfinderin der Bozner Sauce.
Die Nähe zu Kloster und Kirche, Themen von Obst- und Weinbau und viel Arbeit prägten meine Kindheit und Jugendzeit. Mein Vater ging ganz in seinem Beruf und seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten auf. Es waren die Jahre des Aufbaus: die ersten landwirtschaftlichen Kurse entstanden im Kloster Muri-Gries als Vorläufer der landwirtschaftlichen Schulen. Mit dem Kinderchor Leonhard Lechner wurde dort der Grundstein für die Musikschulen gelegt. Johanna Blum und Gottfried Veit waren meine Musiklehrer im Kinderchor, den ich als einzige von uns drei Kindern besuchte.
Am Tag meines 18. Geburtstages bestand ich die Reifeprüfung an der Lehrerbildungsanstalt in Meran. Allen war klar, dass ich Grundschullehrerin werden wollte. Nur ich hätte nun gerne Jus studiert: Ich wollte Kinderanwältin werden.
Das Unaussprechliche
In meiner Kindheit lernte ich viele Mönche und Priester kennen, die über alle Zweifel erhaben waren. Doch nicht alle. Vom 12. Lebensjahr an erlitt ich immer wieder sexuelle Übergriffe, die ich erstmals mit 45 Jahren im Text „Er war der Erste“ benannte. Erst jetzt, mit 70, konnte ich dem Ersten vergeben. Mit 16 wollte ich mich vom Balkon stürzen. Mit 40 und länger hatte ich auf hohen Stiegen Angst, mich hinunterfallen zu lassen. Ich war auch nicht hochnäsig und eingebildet, wie manche behaupteten: es war mein Schutzschild. Wie sich vor Übergriffen wehren? Familienaufstellungen und Therapien zeigten mir Zusammenhänge auf, halfen mir zu verstehen.
Meinen Eltern habe ich nie etwas davon gesagt. Mein Mann lachte nur darüber, wenn es wieder passierte. Meine Beziehung zu meinem Körper, zu den Männern, aber auch zu den Mitmenschen wurden von diesen Erfahrungen geprägt. Ich brauche länger, um mit Menschen in Kontakt zu treten bzw. benötige einen genau definierten Rahmen dazu, wie er bei Arbeitsaufträgen, in Gremien und Vereinen am ehesten gegeben ist.
Die Beweggründe für mein gesellschaftspolitisches Engagement
Aus dem Jus-Studium und der Kinderanwältin wurde nichts. Die Fächervielfalt, die Liebe zu den Kindern, die Freude an ihrer Spontaneität und Ehrlichkeit und der Freiraum für Verantwortung in der Klasse waren ausschlaggebend dafür, dass ich mich begeistert meiner Aufgabe als Grundschullehrerin stellte. Ich war in allen Schulgremien engagiert und setzte mich für Kinderrechte ein: Ich war Mitglied beim VKE und dem Südtiroler Buchklub der Jugend.
Ich war 15 Jahre lang im Pfarrgemeinderat von Gries und gründete als junge Mutter den Grieser Müttertreff, den wir basisdemokratisch und eigenverantwortlich gestalteten, bei dem wir Solidarität und Frauenpower lebten und aus dem einige Frauen als Referentinnen hervorgingen.
Mein Ausflug in die Politik
Als ich erfuhr, dass Weinberge einer Tiefgarage geopfert werden sollten, organisierte ich drei Demonstrationen, eine Bürgerversammlung und Unterschriftenaktion dagegen. Daraufhin wurde ich gefragt, ob ich für den Bozner Gemeinderat kandidieren möchte, was ich auch tat. Als es absehbar war, dass ich tatsächlich mit genügend Stimmen gewählt werden würde, wurde innerhalb der eigenen Partei einiges unternommen, um dies zu verhindern.
Vor nicht langer Zeit las ich in der Zeitung, dass eine politisch Engagierte mir zugetraut hätte, die Anerkennung der Erziehungsjahre für die Pensionsjahre der Frau durchzusetzen. Wahrscheinlich hätte sie damit Recht gehabt. Doch es hat nicht sein sollen.
Das Schreiben hat mir das Leben gerettet
Schlafstörungen und Depressionen mit 36 aufgrund der Ausweglosigkeit meines alkoholkranken Mannes brachten mich an die Grenzen meiner Existenz. Niemand schien seine Alkoholsucht zu stören, nur mich: Ich war falsch. Auf Anraten meiner Familie, um meinen Mann beruflich zu unterstürzen, kündigte ich den Schuldienst. Das war eine Fehlentscheidung.
Es folgten die Trennung und nach drei Jahren die Scheidung gegen den Willen meiner und seiner Familie. Damit hatte ich den Rahmen gesprengt und war aus dem Rahmen gefallen. Bis auf wenige verlor ich alle Freunde. Kein Beruf, kein Geld, denn der Vater der Kinder stellte nach einem halben Jahr trotz zweier Erbschaften die Unterhaltszahlungen ein. Von der Bank und dem Anwalt über den Tisch gezogen – da war Schreiben für mich eine Möglichkeit, mich aus dem Sumpf zu ziehen, mit mir und den anderen schreibend in Kontakt zu treten.
Die schwerste Zeit in meinem Leben
Jahrelang keinen Urlaub. Pizzaessen war out. Skifahren sowieso. Kaum Kontakte, kaum Geld zum Leben. Als Alleinerzieherin und Alleinverdienerin war ich beruflich und privat voll ausgebucht. Zudem war ich damit beschäftigt, Gerechtigkeit vor Gericht durch das Einklagen des Unterhaltes für die Kinder zu erlangen, auch als Zeichen ihrer legitimen Anerkennung durch die väterliche Familie. Es ist mir nicht gelungen. Allein darüber könnte ich ein Buch schreiben.
Kraft gegeben haben mir meine Kinder, die selbst als Leidtragende immer zu mir und meiner Entscheidung gestanden sind. Kraft gegeben haben mir meine wenigen, echten Freundinnen. Kraft gegeben hat mir meine zweijährige Ausbildung zur akademisch geprüften Weiterbildnerin. Mit dem ersten Auftrag als Weiterbildnerin ging es aufwärts, sodass ich mir nach 10 Jahren den Traum eines Cabrios zweiter Hand erfüllen konnte.
Singen – eine Quelle der Freude
Meine erste Chorerfahrung im Kinderchor Leonhard Lechner setzte sich im LBA-Chor und Lehrerchor fort. Nach einer längeren Pause ging ich mit 50 Jahren zum Gelf-Chor, wo ich zehn Jahre lang an wunderbaren Orchestermessen mitwirkte. Viel Licht in die dunklen Nächte der Adventzeit brachte mein Mitsingen auf der Bühne in acht Operetten bei den Südtiroler Operettenspielen. Als nicht ausgebildete Sängerin an so schönen Werken der Weltliteratur mitwirken zu können, erfüllt mich mit Dankbarkeit.
Schreibend Leben in Besitz nehmen
Meine Gedichte sprechen von Liebe, aber auch von Nöten, der Ausweglosigkeit, der Todessehnsucht, den Übergriffen. Sie zerpflücken, zerlegen, zerfetzen das gesellschaftliche Bild von Frau, unter dem sie schick, nett und adrett begraben liegt. Sie setzen sich mit der Oberflächlichkeit der Gesellschaft, beispielsweise mit den Vereinen als Alibi nicht gelebter Beziehungen auseinander. Sie sind gesellschaftskritisch und zum Großteil unveröffentlicht. Sie malen mit Worten Bilder von Momentaufnahmen. Oft sind es Wortspiele, verbunden mit dem Wunsch, auch anderen und dem Anderen eine Stimme zu geben, etwas ins Schwingen zu bringen, gehört zu werden.
Kunst öffnet ungeahnte Ebenen
Durch mein zweites Buch „Alles Liebe“ auf mich aufmerksam geworden, lud mich Gerhard Prantl von der „Künstlerischen Denkwerkstatt Freistaat Burgstein“ einige Male zum Schreiben und künstlerischen Schaffen ins Ötztal ein, das immer mit Ausstellungen und Lesungen verbunden war. Dabei betätigte ich mich nicht nur als Schreiberin, sondern auch als Performerin. So kam es, dass ich 2009 eine sieben Meter lange weiße „FrauenSchleppe“ am Donaukanal in Wien nähte, die ich dann durch die Wiener Innenstadt zog. Die Themen waren „Nie zurecht“, Ausgrenzung der Frauen aus Politik und Kirche bis hin zu Gewalt und Tötung.
Es ist kein Zufall, dass ich als Frau geboren bin
Ich bin mir des Privilegs bewusst, zu dieser Zeit und in diesem Land, mit diesen Bildungs- und Berufschancen als Frau leben zu dürfen. Dafür danke ich den mutigen Frauen, die sich dafür eingesetzt haben. Doch die Fälle von häuslicher Gewalt, Missbrauch und Femizide zeigen, dass nicht alle Kinder und Frauen Schutz und Respekt erfahren und in Würde und Freiheit leben können. Mein Einsatz dafür ist auch die Folge meiner eigenen Geschichte. Ansonsten hätte ich umsonst gelitten und gelebt.
Ich bin eine Anhängerin der Deklaration für Menschenrechte, die keinen Unterschied zwischen Mann und Frau macht. Ich fühle zutiefst, dass es nicht im Sinne Jesu ist, wie die Kirche mit der Frau umgegangen ist und noch umgeht. Daraus ergibt sich auch mein Engagement innerhalb der Kirche für die Gleichbehandlung der Frau.
Das Tiefgründige – die Lehrjahre
Ich habe gelernt, allein zu sein, ohne mich einsam zu fühlen; zu verzichten und mit wenig auszukommen; mit dem, was der Gemüsegarten hergibt, zu kochen. Es reicht, in der Früh aufzustehen und diesen Tag zu überleben. Die Schutzengel und Heiligen warten darauf, zu Hilfe eilen zu dürfen. Auf sie ist Verlass. Ich habe gelernt, mich positiv strahlend zu visualisieren, um meinen Beruf ausüben zu können. Den Schmerzkörper loszulassen. Trotz Hinfallen Immer wieder aufzustehen.
Wenn eine Tür zufällt, gehen tatsächlich andere auf. Man sieht sie aber nur, wenn man nicht mehr auf die zugefallene schaut. Die Natur, die Musik und Kunst sind Türen, die uns offenstehen, die wir aktiv und passiv leben können. Neue Begegnungen, neue Erfahrungen warten darauf, entdeckt zu werden, haben mich bereichert, reich gemacht.
Fazit – eine Momentaufnahme
Ich bin seit gut zwei Jahren in Rente und habe mich in dieser Zeit dafür eingesetzt, dass der Klosterstadel von Muri-Gries unter Denkmalschutz gestellt wird. Seit einem Jahr bin ich Vorsitzende der Katholischen Frauenbewegung der Pfarre Gries, seit einem halben Jahr im Diözesanvorstand der kfb. Wege entstehen durch Gehen. Und irgendwann werde ich wieder schreiben. Vielleicht ein Buch.