Unsere Frau des Monats im Juni ist Lisa Settari. Sie ist Feministin, Politikwissenschaftlerin, Aktivistin und im Vorstand des Frauenarchivs in Bozen, wo sie sich um die Öffentlichkeitsarbeit kümmert.
Kannst du dich kurz vorstellen?
Ich bin in Lana aufgewachsen und heiße, wie gefühlt neunzig Prozent der Mädchen, die in den Neunzigern im Burggrafenamt geboren wurden, „Lisa“. Schon seit dem Kindergarten höre ich aber auch auf „Lilli“, wobei ich mit verschiedenen Schreibweisen experimentiert habe. Was allerdings vielleicht interessanter ist: Mein Vater hat viel Zeit im Ausland verbracht und seine Geschichten waren fast eine Art Mythos, mit dem ich groß geworden bin. Meine Schwester ging dann als Jugendliche nach England, um die Sprache zu lernen – ich war damals ein Kleinkind, aber mir war klar: Ich muss da auch hin. Mittlerweile ist ein Vierteljahrhundert vergangen, und ich habe im Rahmen meines Studiums (Politikwissenschaften im Bachelor, Europäische Frauen- und Gendergeschichte im Master), verschiedener Jobs und Freiwilligendienste in Großbritannien, Frankreich, Belgien und Österreich gelebt. Zurzeit bin ich Dozentin für Deutsch als Fremdsprache und österreichische Landeskunde an der Alexandru Ioan Cuza Universität in Iaşi, Rumänien. Mit einem Bein bin ich allerdings immer gern in Südtirol geblieben.
Was bedeutet für dich Feminismus?
Zur Feministin wurde ich eigentlich erst in meinem ersten Jahr an der Uni. Über Gruppendynamiken und Machtverhältnisse habe ich schon vorher öfter nachgedacht, sicher auch wegen der Minderheitenthematik in Südtirol. Ich habe mich gefragt, wer warum welchen Stempel aufgedrückt bekommt, ob wir wirklich genauso miteinander umgehen müssen, und ob es nicht vielleicht anders gehen könnte. Als Studentin habe ich mich dann immer mehr für Stereotypen, Machtverhältnisse, Unterdrückung und Ausbeutung im Zusammenhang mit Geschlecht und/oder Gender interessiert. Das fiel ziemlich genau in die frühe MeToo-Zeit, als man leicht anpassende Lektüre kam und viele Leute bereit waren, über Sexismus zu sprechen. Nach und nach kamen bei mir Überlegungen zu den Aspekten Klasse und Spezies dazu, und meine feministischen Reflexionen und Überzeugungen wurden intersektioneller. Meine Familie empfinde ich als stark geprägt vom Arbeiter*innensein, und ich bin leidenschaftlich gern vegan – daher sind Klasse und Spezies zwei Aspekte, die mich besonders betreffen, oder die mir besonders nahe gehen. Für mich gehört dazu, erstens, die Ansicht, dass es ungerechte, unterdrückende und ausbeuterische Strukturen gibt, die dank bestimmter Vorstellungen von Geschlechtern und Gender bestehen können; und zweitens der Wille, diesen Strukturen eine Alternative entgegenzusetzen, in Form einer Gesellschaft, in der es uns allen gut geht, weil wir uns ausdrücken und verwirklichen dürfen, weil wir alle dazu nötigen Rechte genießen können, und weil wir unsere Pflichten unseren Möglichkeiten entsprechend nachkommen. Feminismus bedeutet für mich auch, dass wir unseren Umgang miteinander überdenken. Ich bin zwar ziemlich rational und materialistisch eingestellt, kann aber auch feministischen Care-Philosophien viel abgewinnen. Damit meine ich, dass es uns guttäte, wenn wir anderen Lebewesen und der Umwelt mit einem interessierten, zugewandten und wohlwollenden Blick begegnen würden, auch wenn sie kein Recht darauf in einem Gerichtssaal einfordern können.
Was beinhaltet dein Aktivismus?
Der Begriff „Aktivismus“ löst bei mir verschiedene Emotionen aus. Ich sehe die klassische Aktivistin mit einem Megaphon auf einer Demo vor mir, die eine Traube von Leuten um sich herum begeistert, und denke mir, so wäre ich gerne. Allerdings bin ich introvertiert und schüchtern, und zudem ziemlich egozentrisch, weshalb mein Aktivismus sich, wie ich finde, noch zu stark in meinem Kopf, in Vier-Augen-Gesprächen, beim Lesen oder in den sozialen Netzwerken abspielt. Obwohl ich überzeugt davon bin, dass wir die echten Probleme nur gemeinsam lösen können, was ja eigentlich auch ein schöner und tröstender Gedanke ist. Ich versuche, dieser Tendenz von mir entgegenzuwirken, indem ich versuche, mich mit anderen Feminist*innen zu vernetzen, aber es leicht tue ich mich dabei nicht. Schöne Erfahrungen konnte ich aber dank der feministischen Südtiroler Facebook-Gruppe „Südtirols Sisters“ machen, sowie in verschiedenen feministischen Gruppen und Projekten im In- und Ausland.
Möchtest du etwas über aktuelle Projekte erzählen?
Momentan hoffe ich stark, zum feministischen Sommercamp „Agora“ in Brüssel zugelassen zu werden, das jährlich von der Europäischen Frauenlobby veranstaltet wird. Das wäre eine super Gelegenheit, Gleichgesinnte aus ganz Europa zu treffen und gemeinsam zu lernen, Pläne zu schmieden und Netzwerke zu pflegen.
Und dann freue ich mich natürlich besonders auf die Ausstellung, die ich für eine der Gastvitrinen des Frauenmuseums konzipieren darf – ich werde darin einige zentrale Überlegungen und Ergebnisse, die aus meiner Masterarbeit hervorgehen, audiovisuell vorstellen. Die Ausstellung wird im September eröffnet, also stay tuned. 😊
Du bist auch im Bozner Frauenarchiv aktiv, richtig?
Genau, ich kümmere mich um einen Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Archivs und bin seit diesem Frühjahr auch im Vorstand (wir freuen uns über eure Likes auf Facebook, Instagram und Twitter😊).
Das Frauenarchiv ist für mich als stille Streberin ein super Ort, um feministisch aktiv zu sein. Während meinem Masterstudium der Frauen- und Gendergeschichte habe ich mich mit epistemischer Gewalt auseinandergesetzt, also damit, wer Wissen schaffen und verbreiten darf, und eben auch, wer in den Archiven vertreten ist. Feministische Historiker*innen werfen aus gutem Grund die Frage auf, warum die Geschichtswissenschaft oft als Fotoalbum für einzelne, herausragende Feldherren dargestellt wird.
Frauen in Südtirol, die ihre Lebensgeschichte erzählen liegt mir besonders an Herzen, da auch meine Masterarbeit über die Coming-Out-Erfahrungen von frauenliebenden Frauen in Südtirol auf solchen Interviews basiert.
Hast du Vorbilder?
Sehr viele! So viele, dass ich mich schwertue, eine bestimmte Person zu nennen, wenn ich so danach gefragt werde. Ein feministisches Vorbild ist aber sicher die französische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Annie Ernaux. Sie schreibt Romane und Erzählungen, die stark geprägt sind von ihrer Geschichte als Kind einer Familie, die in einer Kleinstadt vom Arbeiter*innen ins kleinbürgerliche Milieu „aufgestiegen“ ist, und als junge Frau, die als erste in ihrer Familie an die Uni ging, das geht mir nahe. Das Frausein, gerade auch während einer Zeit ohne leichten Zugang zu Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, thematisiert sie auch, ebenso wie das Nachgeben unter patriarchalen Strukturen, auch wenn man im Kopf glasklar feministisch denkt außerdem wirkt sie in Interviews sehr sympathisch und beobachtet als 83-Jährige jüngere Feminist*innen mit Interesse und Wohlwollen, was erfrischend und bestärkend ist.
Wo holst du dir Kraft und Ausgleich?
Nach Jahren der Frustration im Schulsport tatsächlich durch Bewegung – auf Crosstrainern kann man lesen, da finde ich meinen inneren Frieden! Ansonsten gern am oder im Wasser, beim Wandern, oder auch auf langen Spaziergängen in einer interessanten Stadt, ohne Ziel und Zeitdruck. Natürlich bei langen Gesprächen mit lieben Menschen, und ja, beim Ashtanga-Yoga, dieses Klischee erfülle ich gern.
Lebensmotto
Eines ist sicherlich: „Was ich jetzt nicht weiß, kann ich noch lernen“ („What I don’t know now, I can still learn“) aus dem Gedicht „Eat rice, have faith in women“ („Iss/Esst Reis, vertraue/vertraut Frauen“) der lesbischen Künstlerin Fran Winant. Ich bin bei der Lektüre von Carol J. Adams‘ Buch über den Zusammenhang von Feminismus und Veganismus (ein anstrengendes, aber äußerst empfehlenswertes Buch!) darauf gestoßen und sage es mir oft. Und wenn ich mich wieder mal nicht am legitim fühle, zu faul, zu unvorbereitet, zu blöd: „Du bisch do, und sell sich guat sou“ – das darf man auch gerne weitersagen.
Lisa Settari interviewt von Sissi Prader