Statement Monika Hauser, medica mondiale e.V.
Trotz rechtlicher Gleichstellung von Männern und Frauen sind die Geschlechterzuschreibungen weiterhin hierarchisch. Dies wird beim Thema „Gewalt“ besonders deutlich: Psychische, physische und sexualisierte Gewalt in engen sozialen Beziehungen und durch Dritte gehören zur Lebenswelt vieler Frauen und Mädchen – in Kriegs- und Krisenregionen, aber auch in Europa. Die EU-weite Erhebung „Gewalt gegen Frauen“ der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA 2014) bestätigt die hohe Betroffenheit: EU-weit haben 28% der Frauen seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren; eine von 20 Frauen (5%) ist seit ihrem 15. Lebensjahr vergewaltigt worden; und jede 4. bis 5. Frau berichtet über körperliche und / oder sexuelle Gewalt in der aktuellen oder einer früheren Paarbeziehung.
Die WHO (2013) bezeichnet häusliche Gewalt als eine der häufigsten Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen – was sich gerade aktuell während der Covid-19 Pandemie in dramatischer Weise bestätigt.
Gewalt hat gravierende gesundheitliche kurz- und langfristige Auswirkungen für betroffene Frauen und deren Kinder. Sie bedeutet in jedem Fall eine hohe psychische Belastung und kann zu psychischen Beeinträchtigungen führen. Für Kinder hat das Aufwachsen in einem gewaltgeprägten Umfeld gravierende negative Folgen für ihre Entwicklung und Gesundheit. Schon lange fordern Fachfrauen, Aktivistinnen und Betroffene den geschlechtsspezifischen Blick auf Prävention und Gesundheitsförderung ein.
Die bundesdeutsche Prävalenzstudie aus dem Jahr 2003 zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen stellte wenig überraschend fest, dass alle Formen von Gewalt und Belästigung zu psychischen Folgebeschwerden führen. Dies sind beispielsweise Schlafstörungen, erhöhte Ängste, Niedergeschlagenheit und Depression, Suizidgedanken, Selbstverletzung und Essstörungen, Sucht und Abhängigkeit, Posttraumatische Belastungsstörung usw.
Betroffene Frauen und deren Kinder brauchen eine angemessene gesundheitliche Versorgung. Jedoch haben wir einen dramatischen Mangel an Maßnahmen und Angeboten zum Erhalt bzw. zur Verbesserung der psychischen Gesundheit gewaltbetroffener Frauen und ihrer Kinder festzustellen. Um die gesundheitlichen Folgen der Gewalt an Frauen und ihrer Kinder angemessen auffangen zu können, müssen breit gestreut niedrigschwellige, gewaltsensible psychosoziale Unterstützungsangebote bereitgestellt werden, die die Lebenswelten der Frauen und Kinder einbeziehen.
Ebenso fehlen häufig geschlechtsspezifisch konzipierte psychotherapeutische sowie psychiatrische Versorgungsangebote. Oft werden in Diagnose und Therapie die Gewaltproblematik der Frauen und ihrer Kinder nicht berücksichtigt. Geschlechtsspezifische Gewalt und deren gesundheitliche Folgen sind in der Aus-, Fort-und Weiterbildung für diese Berufsgruppen nicht oder unzureichend verankert. Frauenhäuser und Fachberatungsstellen sind nicht mit dazu erforderlichen personellen und sachlichen Ressourcen ausgestattet.
Wir brauchen die Einrichtung von interdisziplinären Runden Tischen und die Förderung von Netzwerken zwischen Gesundheits-und Gewaltschutzbereich und den Vertretungen der Patientinnen.
Doch obwohl seit Jahrzehnten Fachleute auf diese Missstände hinweisen, werden von Regierenden weder in Deutschland noch Italien adäquate Programme aufgelegt.
Für die Unterstützung von Gewalt Betroffenen, Fachkräften und Organisationen hat medica mondiale den „STA – stress- und traumasensiblen Ansatz®“ entwickelt, der über die Grundprinzipien Stabilität und Sicherheit, Verbindung und Empowerment eine Haltung entwickelt wird, die von sexualisierter Gewalt Betroffene unterstützt, ein unterstützendes Umfeld fördert und gleichzeitig nachhaltige Bedingungen für die Prävention schaffen soll. Er kann ohne therapeutische Grundausbildung von unterschiedlichen Berufsgruppen in verschiedenen Arbeitsfeldern niedrigschwellig umgesetzt werden.
Für gewaltbetroffene Frauen mit Migrationshintergrund ohne ausreichende Deutschkenntnisse gibt es nur an wenigen Orten muttersprachliche Angebote bzw. Dolmetscherdienste in der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung. Und für Frauen mit Behinderungen ist häufig ein barrierefreier Zugang zu therapeutischer Versorgung nicht gewährleistet.
Wie ist die Kostenübernahme durch Krankenkassen gesichert? Sind Opferentschädigungsrecht geschlechtsspezifisch ausgerichtet und erschwert u.U. die Aufhebung der Anonymität der Patientin erheblich die Inanspruchnahme von Leistungen? Sind die Folgen psychischer Gewalt erfasst und ist das Stundenkontingent für therapeutische Sitzungen adäquat dem Bedarf?
Wir müssen uns vor Augen halten: Gewalt und Krieg ist nie einfach zu Ende, weil ihre Folgen immer auch als transgenerationales Trauma in die nächsten Generationen hineinwirken. So müssen wir davon ausgehen, dass die kaum bearbeiteten Traumata ganzer Generationen des 19. und 20. Jahrhunderts ungefiltert an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben wurden. Daraus resultieren oft Bindungsstörungen, Beziehungsunfähigkeit, Empathielosigkeit, psychosomatische und psychische Erkrankungen, Misstrauen allem gegenüber und Verlust des Glaubens an das Gute – mit Folgen für uns alle bis heute!
Monika Hauser